Paulus und die Auferstehung von Jesus
Wie Paulus die Auferstehung von Jesus verstand
Wanderprediger wie Jesus gab es im antiken Palästina viele,
und auch jüdische Märtyrer gab es im ersten Jahrhundert etliche. Selbst die
Inhalte, die Jesus predigte und die in den vier Evangelien des Neuen Testaments
überliefert sind, zum Beispiel das nahende Reich Gottes oder die Nächsten- und
Feindesliebe, waren in der jüdischen Glaubenstradition nichts Neues. Neu war
allerdings die rituelle Tischgemeinschaft, die Jesus mit den Außenseitern und
Entrechteten der jüdischen Gesellschaft teilte. Er aß zusammen mit Menschen, die
bei frommen Juden als unrein galten und die daher ausgegrenzt wurden. Jesus wagte
schon damals – gegen erhebliche Widerstände – Inklusion im besten modernen Sinne.
Aber alles, was wir vom Leben Jesu wissen oder vermuten
können, erklärt nicht, wie die kleine jüdische Sekte, deren Rabbi er war, zur
Weltreligion werden konnte. Die dafür entscheidenden Dinge ereigneten sich erst
nach Jesu Tod. An erster Stelle stehen hier Berichte von seinen Anhängern, die
übereinstimmend behaupteten, Jesus nach seiner Kreuzigung lebend gesehen zu
haben. Das älteste überlieferte Zeugnis für diese Berichte ist ein Brief, den
der Apostel Paulus vermutlich um das Jahr 56 an die junge Christengemeinde in
Korinth schrieb. In diesem Brief erwähnt Paulus der Reihe nach die Personen,
von denen Jesus nach seinem Tod gesehen wurde: zuerst Petrus, dann die anderen
der zwölf Apostel, gefolgt von 500 anderen Brüdern, danach Jakobus, der Bruder
von Jesus, und schließlich Paulus selbst.
Was ist von Paulus' Zeugenliste der Auferstehung zu halten?
Was ist von der Liste zu halten, die Paulus mehr als zwei Jahrzehnte nach Jesu Tod verfasste, und was von den Berichten der vielen, die Jesus nach seinem Tod gesehen haben wollen? War das alles nur fromme Dichtung, oder wurden damals schon vorsätzlich und systematisch Fake News verbreitet? Handelte es sich um eine kollektive Sinnestäuschung, um eine Massenhalluzination? Oder war Jesus am Ende überhaupt nicht gestorben, wie die Muslime glauben? Und wie steht es mit der Option, von der viele Christen überzeugt sind, dass Jesus tatsächlich, objektiv, physisch wieder zum Leben erweckt wurde?
Der amerikanische Religionsgelehrte Bruce Chilton findet auf
diese Fragen Antworten, die mir konsistent und plausibel erscheinen: Nach seiner
Meinung betrieben Jesus und seine Jünger sowie viele andere Anhänger von Jesus eine
intensive mystische Praxis. Sie zeichnete sich durch einen nicht sesshaften und
entbehrungsreichen Lebensstil, durch Fasten, Meditation und Gebet sowie durch
Visualisierungsübungen von biblischen Motiven aus.
Viele antike Menschen, Juden wie Griechen und Römer,
rechneten mit dem nahe Ende der bekannten Welt. Jesus, Seneca und Paulus wären
erstaunt, würden sie erfahren, dass die Weltgeschichte nach ihnen noch 2000
Jahre weitergegangen ist. Entsprechend gering schätzten Jesus und seine
Anhänger, später auch Paulus und andere Christen der ersten Stunde die
vordergründige Wirklichkeit ein. Sie alle sehnten sich nach einer anderen
Wirklichkeit: einem von Israels Propheten angekündigten Reich, in dem Israels Gott
von allen Völkern verehrt werden und vollkommene Gerechtigkeit verwirklicht
sein würde. Sie alle strebten danach, ihren Beitrag zu Verwirklichung dieses
Reiches Gottes zu leisten, und koste es ihr Leben.
Jesus, der Mystiker
Jesus und seine Anhänger fühlten sich der Welt ihrer mystischen Visionen ungleich näher als der deprimierenden Wirklichkeit, die sich vor ihren Augen abspielte: Ein von Rom unterdrücktes und gedemütigtes Land mit zum Himmel schreienden sozialen Missständen und ohne inneren Zusammenhalt. Jüdische Könige, die Marionetten der Römer waren und den Gott beleidigenden Lebensstil des Feindes pflegten. Eine reiche Priesterkaste, die sich durch ihre Kollaboration mit den römischen Besatzern, von denen sie abhängig war, korrumpierte.
Die Sehnsucht nach Gottes Eingreifen in die Welt war
übermächtig. Intensive Meditations- und Gebetspraxis mit der Visualisierung göttlicher
Herrlichkeit und das von Jesus gegebene Versprechen einer besseren Welt, in der
den Armen und Entrechteten Gerechtigkeit widerfahren würde, bot einen
attraktiven Ausweg aus dem Elend der Welt und der Härte des eigenen Lebens.
Jesus selbst fühlte sich offensichtlich im Gebet Gott so nahe, dass er zärtlich
von seinem „Abba“ sprechen konnte. Religiös motiviertes visionäres Erleben
dürfte für Jesus, seine Jünger und für viele seine Anhänger eine regelmäßige
Erfahrung gewesen sein.
Die intensive visionäre Praxis von Jesus und seinen
Anhängern zieht Chilton auch heran, um die Verklärung von Jesus auf dem Berg Hebron
zu erklären. Die
Jünger Petrus, Jakobus und Johannes sehen, wie Jesus vor ihren Augen verwandelt
wird: „Sein Gesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden blendend
weiß wie das Licht", heißt es im Matthäus-Evangelium. Markus, Matthäus und
Lukas berichten , wie Moses und Elija mit Jesus reden. Die Jünger hören
eine Stimme, die sie für die Stimme Gottes halten und die sagt: „Das ist mein
geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören.“
Auch das, was laut Paulus Hunderte von
Jesus-Anhängern bezeugt haben: dass sie ihren gekreuzigten Rabbi lebend gesehen
haben, interpretiert Chilton als Visionen von mystisch geschulten Gläubigen. Ebenso
sei das sogenannte Damaskuserlebnis, bei dem nach eigenem Bekunden der
bisherige Christenverfolger Paulus vom auferstandenen Jesus zum Apostel berufen
wurde, nichts anderes als eine Vision gewesen.
Paulus glaubte nicht an die Unsterblichkeit der Seele
Chilton weist darauf hin, dass Paulus in keinem seiner Briefe die Auferstehung oder den Auferstandenen beschreibt. Ebenso wenig erwähnt er ein leeres Grab. Chilton glaubt, dass Paulus zwei wesentliche spätere Vorstellungen der Kirche nicht teilte, nämlich die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung eines physischen Körpers.
Vielmehr geht für Chilton aus dem
ersten Korintherbrief hervor, dass für Paulus Menschen gleichzeitig in drei
verschiedenen Lebensformen bzw. auf drei verschiedenen Ebenen von Körper existieren
können:
- in einer fleischlichen Form, als physischer Körper
- als ein seiner selbst bewusster Körper, der die seelischen Funktionen einschließt, und
- in einer geistigen Form, als spiritueller Körper, der nicht unter der Macht körperlicher und seelischer Antriebe und Bedürfnisse steht. Nur letzterer steht in Beziehung zu Zwecken, die über Eigennutz hinausgehen. Nur ein solcher „geistlicher Leib“ (wie unter anderem Luther sôma pneumatikon übersetzt hat) kann mit Gott in Verbindung treten und den Tod überwinden.
Chilton zufolge glaubte Paulus nicht,
Jesus sei in seinem fleischlichen Körper, der bestattet wurde, auferstanden.
Paulus sah in dem auferstandenen Jesus aber auch nicht eine nur rein geistige
Erscheinung. Vielmehr war Paulus – so Chilton – davon überzeugt, dass Jesus seinen
Anhängern in einem spirituellen Körper (griechisch: sôma pneumatikon) erschienen war. Jesu sôma pneumatikon
sei für Paulus etwas durchaus Körperliches und Reales gewesen. Die Vorstellung
von einem realen Geistkörper mag für uns heute, die wir an den Dualismus von
einem materiellen und damit vergänglichen Körper und einer immateriellen,
unsterblichen Seele gewöhnt sind, schwer nachvollziehbar sein.
Die vier kanonischen Evangelien des
Neuen Testaments, die Apostelgeschichte, die Offenbarung des Johannes sowie
außerkanonische Quellen enthalten recht unterschiedliche Darstellungen des
auferstandenen Jesus. Gemeinsam ist ihnen aber ein visuelles Erleben im Sinne
von: „Ich habe den Herrn gesehen.“ Jesus
wurde folglich von den zahlreichen „Zeugen“, die ihn nach seinem Tod wieder
lebend gesehen haben, durchaus körperlich wahrgenommen. Aber diese
Körperlichkeit hatte eine ganz eigene, laut Paulus eben geistliche Qualität.
Paulus' Mission
Auch Paulus selbst hat laut Chilton sein Damaskuserlebnis als Begegnung mit dem sôma pneumatikon von Jesus verstanden. Gottes Sohn[2] hatte sich in seinem Inneren unmittelbar offenbart. Aus dieser höchst persönlichen mystischen Gipfelerfahrung leitete Paulus seine Autorität als Apostel ab. Er war davon überzeugt , dass seine göttliche Mission darin bestand, die Botschaft von Jesus auch zu den Nichtjuden zu bringen und sie für das ewige Leben zu retten.
Die Möglichkeit einer Auferstehung von
den Toten war im Judentum des ersten Jahrhunderts – unter anderem bei den
Pharisäern, aber auch in unterschiedlichen Konzeptionen der heidnischen
Vorstellungswelt – weit verbreitet . Insofern fiel es den Anhänger von Jesus
nicht schwer zu glauben, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hatte. Durch
das hundertfache Zeugnis, dass Jesus lebendig war, bekam der Glaube an die
Auferstehung eine neue Qualität: Was bisherig nur eine Hoffnung war, erschien
von da an als gesichertes Faktum.
Es eröffnete sich noch eine weitere
Aussicht: Warum sollte Gott nicht das, was er im Fall von Jesus getan hatte,
auch für die tun, die an Jesus glaubten? Der wieder zum Leben erweckte Jesus
war ganz offensichtlich der in den Schriften angekündigte Messias, griechisch:
Khristos, lateinisch: Christus, deutsch: der Gesalbte. Mit Jesus Christus könnte
schließlich die ganze Menschheit in einen Zustand der Auferstehung
transformiert und das Reich Gottes – des Gottes Israels – endlich unter allen
Völkern verwirklicht werden. Durch Paulus wurde diese Botschaft viral und verbreitete sich schließlich in der ganzen Welt.
Alle meine Blogbeiträge
[1] Bei „Baylor University Press“ wird voraussichtlich
2019 ein neuer Titel von Bruce Chilton erscheinen: „Resurrection Sciences. How the
Disciples Believed God Raised Jesus from the Dead“. In diesem Buch
werden alle Schulen im Neuen Testament behandelt, die sich auf die Auferstehung
von Jesus beziehen.
[2] Der Ausdruck „Sohn Gottes“ hatte
schon vor Jesus Anwendung gefunden und bezeichnete Engel, das Volk Israel als
Ganzes oder auch Könige, die von David abstammten.
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